Vergleich der Tierwelt in Miyazaki Hayaos Film "Mononoke Hime" mit der Tierwelt in europäischen Märchen und Fabeln


In vielen europäischen Märchen, Mythen und Sagen, vor allem aber in den Fabeln kommen Tiergestalten vor, seien es nun die Mischwesen aus der griechischen Mythologie, die Bestien oder friedlichen Tiere aus den Märchen oder die in Tierform dargestellten Eigenarten der Menschen in den Fabeln. Auch im außereuropäischen Raum nehmen Tiere in diesen literarischen Gattungen einen großen Raum ein.
Miyazaki steht damit mit seiner Geschichte von Mononoke Hime ganz in dieser Tradition Sein ursprüngliches Filmprojekt aus den 80er Jahren basierte auf seinem gleichnamigen Kinderbuch , einer japanischen Version des Perraultschen Märchens"La Belle et la Bête", welches, unter dem englischen Titel "The Beauty and the Beast", auch von Walt Disney in eine moderne Zeichentrickversion umgesetzt worden war .
In dem Anime "Mononoke Hime", das Miyazaki dann in den 90er Jahren realisiert, verändert er die Geschichte entscheidend, so dass sie kaum noch Ähnlichkeiten mit dem Märchen aufweist, erhalten bleibt allerdings der Konflikt zwischen Mensch und Tier.

In den europäischen Märchen und Fabeln kommen Tiergestalten unterschiedlichster Art vor. Zunächst sind es vor allem Tiere, die die Menschen der Zeit, in der die Märchen entstanden, aus eigener Anschauung kannten und zuweilen auch fürchteten, wie zum Beispiel die Wölfe und Bären, die Rehe und Füchse, Haustiere jeglicher Art sowie Vögel, Fische, Reptilien und Insekten. Daneben gibt es Fabelwesen wie das Einhorn oder die Drachen. In den Fabeln agieren auch Tiere wie Löwen, Kamele und Affen, die nicht der heimischen Fauna angehören.
Miyazaki wählt seine Tiergestalten unter ähnlichen Gesichtspunkten aus. In Mononoke Hime sind es - von den Fantasiegeschöpfen einmal abgesehen- alles Tiere, die in Japan vorkommen, Wölfe, deren Vorlage wohl der riesige weiße Polarwolf ist, Wildschweine, die in der ganzen Welt heimisch sind, Affen, die auch heute noch in bestimmten Gebieten Japans leben, sowie Vögel, Schmetterlinge und Ratten. Es gibt Ochsen, die den Menschen als Zugtiere dienen, und ein Yak-ähnliches Tier, auf dem der Protagonist Ashitaka reitet. Eine Sonderstellung nimmt die Gottheit ein, die sowohl in Hirschgestalt wie auch in einer Mischform von Mensch und Echse auftritt.

Wie unterscheidet sich Miyazakis Tierwelt von der der Märchen? Den auffälligsten Unterschied findet man bei der Darstellung der Wölfe. Im europäischen Kulturraum steht der Wolf für das Böse schlechthin, er ist grausam, gierig, gefährlich für Mensch und Tier wie in den Märchen "Rotkäppchen" oder "Der Wolf und die sieben Geißlein". Zuweilen verkörpert er auch, besonders in den Fabeln den einfältigen, dummen und treulosen Kerl, der bei allem den Kürzeren zieht, ob ihn nun der gewitzte Fuchs an der Nase herumführt oder er von den Bauern verprügelt wird. In einer Fabel von Jean de La Fontaine heißt es: "Ich bin", spricht er, "gehasst. Von wem? Von jedermann. Den Wolf sieht stets als Feind man an." Der Wolf tritt fast immer als gefährlicher Einzelgänger auf, als mordlüsterne Bestie, von Natur aus böse, der alles zu seiner Beute machen will.

Ganz anders stellt Miyazaki die Wölfe dar! In Mononoke Hime hat die Wölfin Moro ein Menschenkind, das Mädchen San, gemeinsam mit ihren beiden Jungen aufgezogen und es als Tochter akzeptiert. Hier zeigt sich bereits, wie gut Miyazaki das Verhalten der Wölfe studiert hat, denn diese verfügen über einen sehr ausgeprägten Familiensinn. Auffällig ist der zärtliche Umgang , den die Tiere und San miteinander pflegen. Es sind Szenen, wie die, in der San die Wunde der Wolfsmutter aussaugt, in der sie ihre Brüder liebkost und andererseits von diesen beschützt wird, die aufzeigen, welch enger Zusammenhalt zwischen den Wölfen besteht. Gemeinsam greifen sie auch die Menschen an, was wiederum dem typischen Wolfsverhalten entspricht, denn sie sind keine Einzelgänger und jagen grundsätzlich nur in Rudeln. Miyazakis Wölfe attackieren die Menschen jedoch nicht, um Beute zu machen, sondern sie versuchen, das weitere Vordringen der Menschen in den Wald der alten Götter zu verhindern und sie wieder von dem bereits eroberten Gebiet zu vertreiben. Deshalb hassen sie die Menschen, denn sie sehen sich als Hüter der Bergwälder, dem Reich des Hirschgottes Shishi-gami.
Ein weiterer grundlegender Unterschied zu dem Wolfsbild der Märchen besteht darin, dass Moro kein gewöhnlicher Wolf ist, sie ist eine Naturgottheit oder auch ein Mononoke, was man in diesem Zusammenhang vielleicht mit: "geistiges Wesen eines Tieres" umschreiben könnte. Miyazaki hat Moro mit einer hohen Intelligenz, mit übernatürlichen Kräften und einer klaren Urteilskraft ausgestattet. Sie versteht die menschliche Sprache und ist als Gottheit auch unsterblich.

Die zweite Gruppe der wichtigen Tierarten, die Miyazaki in seinem Film - und nicht nur hier - einsetzt, sind die Schweine, hier in ihrer natürlichen Form als Wildschweine.
In den europäischen Märchen und Fabeln findet man Wildsschweine weit weniger häufig als zum Beispiel die Wölfe, wohl deshalb, weil sie vom Menschen schon seit Urzeiten gejagt und auch als Wildbret verzehrt werden. Im Grimm'schen Märchen vom "Tapferen Schneiderlein" muss der Held ein Wildschwein fangen, das viel Schaden im Wald angerichtet hat. Der wilde Eber oder die Bache, die ihre Frischlinge verteidigt, werden durchaus in ihrer Gefährlichkeit richtig eingeschätzt, aber im Normalfall sind Wildschweine sehr scheue Tiere, die dem Menschen aus dem Weg gehen. Im Märchen werden den Wildschweinen keine weiteren Attribute zugedacht, vielleicht noch am ehesten in den Fabeln, wie zum Beispiel bei Aesop, wo der Eber eine gewisse Weitsichtigkeit an den Tag legt, weil er seine Hauer schon dann wetzt, bevor sich die Notwendigkeit ergibt, sie einzusetzen. Ansonsten kommen Hausschweine vor, wie etwa im Märchen "Hans im Glück" oder in La Fontaines Fabel "Das Schwein, die Ziege und der Hammel".
In Mononoke Hime haben die Wildschweine eine ganz andere Funktion, sie sind, wie die Wölfe, die Hüter der Wälder. Der von Ashitaka getötete Eber Nago, durch einen Fluch zum Tatari-gami, einen Dämon, verwandelt, ist, wie Okkotonushi, eine Gottheit, welche die menschliche Sprache versteht und unsterblich ist. Von Okkotonushi, dem großen, weißen Eber mit den vier Hauern, sagt Moro, dass er Verstand habe und um die Zusammenhänge wisse. Er wird von der namenlosen Rotte seiner Artgenossen mit großem Respekt behandelt. Aber Okkotonushi ist blind, und als die Menschen seinen feinen Witterungssinn täuschen, rennt er in sein Verderben. Die Wildschweine sind keine wilde Horde, sondern stolze Tiere, rasende Gottheiten, die im Frontalangriff ihre Gegner überrennen. Sie wollen sich auch nicht von den Wölfen helfen lassen. Sie hassen die Menschen, weil diese ihren Wald zerstören. Miyazaki zeigt hier auch menschliche Verhaltensweisen in Zusammenhang mit den Wildschweinen auf, zum Beispiel die "Kriegsbemalung" und das militärische Vorrücken der Rotte. Nicht die Wildschweine werden von den Menschen gejagt, sondern umgekehrt; nicht sie sind die Jagdbeute, die verspeist wird, sondern sie wollen die Menschen fressen.

Die dritte Gruppe von Tieren, die Miyazaki in seinem Anime agieren lässt, sind die Affen. Diese gehören heute nicht mehr der europäischen Fauna an, mit Ausnahme der Affen von Gibraltar. Aber man kannte dressierte Affen von Jahrmärkten und Fürstenhöfen. Dennoch findet man kaum europäische Märchen, in denen Affen auftreten. Die Episode von den zwei Affen, in Ludwig Bechsteins gleichnamigen Märchen, dient nur als Stilmittel und gehört in den Bereich der Fabeln. Jean de La Fontaine hat etliche Fabeln geschrieben, in denen Affen vorkommen, so zum Beispiel "Der Affe und der Leopard", "Der Affe als Richter zwischen Wolf und Fuchs" und andere mehr. Einmal verkörpert der Affe den gewitzten, übermütigen Gesellen, zum anderen tritt er als Richter oder Arzt auf. Immer wird ihm eine gewisse Schläue bis hin zur Klugheit bescheinigt, aber er ist nie aggressiv oder eine Bedrohung für den Menschen.
In Mononoke Hime ist das anders. Miyazaki lässt eine Gruppe Affen als schemenhafte Gestalten auftreten, die auf ihre Art versuchen, den Wald zu retten, indem sie unablässig Bäume pflanzen. Aber sie bekämpfen auch die Menschen, bewerfen sie mit Steinen und Zweigen und glauben, dass sie so stark werden wie die Menschen, wenn sie diese auffressen. Sie verfügen über den feinen Instinkt der Wildtiere und bemerken, wenn etwas nicht der natürlichen Ordnung entspricht, zum Beispiel die als Wildschweine verkleideten Krieger. Den Wölfen und San gegenüber verhalten sich die Affen manchmal reichlich unverschämt, wie die Szene zeigt, in der sie San beleidigen und schließlich von den Jungwölfen verjagt werden. Die Affen in "Mononoke Hime" wirken nicht besonders intelligent, obwohl San sie als die Weisen des Waldes bezeichnet.

Kleintiere, Vögel, Insekten, Fische und Reptilien sind in den europäischen Märchen und Fabeln zahlreich vertreten, ebenso die Haustiere. Sie stehen oft den Menschen hilfreich zur Seite, geleiten sie auf dem richtigen Weg. Manchmal sind sie auch verzauberte Menschen, wie zum Beispiel in den Märchen "Der Froschkönig" oder "Die wilden Schwäne". Zuweilen sind sie selbst die Helden des Märchens wie "Das hässliche junge Entlein" oder verfügen über Zauberkräfte wie der Goldesel in "Tischlein deck dich". In den Fabeln werden sie ihren Eigenschaften entsprechend eingesetzt, die Grille steht für Müßiggang, Ameise und Biene für den Fleiß
Im Anime Mononoke Hime haben alle Tiere dieser Kategorie nur stumme Rollen. Die Ochsen sind, als Haustiere, die Lastenträger der Menschen; Vögel und Schmetterlinge werden filmisch so eingesetzt, dass sie stets das Kommen des Hirschgottes Shishi-gami ankündigen, und die Ratten, die nur kurz in der Szene mit dem verwundeten Okkotonushi zu sehen sind, verheißen nichts Gutes. Diese Funktion kommt ihnen meist auch im europäischen Märchen zu.

Neben realen Tieren in ihrer natürlichen Gestalt gibt es, wie eingangs erwähnt, natürlich auch Fantasiegeschöpfe, sowohl in den Märchen, als auch bei Miyazaki. In den Märchen sind diese Wesen entweder gefährliche Tiere, wie das Einhorn im "Tapferen Schneiderlein" oder in Ungeheuer verwandelte Menschen. Man findet auch Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, wie "Die kleine Seejungfrau", die den Menschen freundlich oder auch feindlich gestimmt sein können.
Die zwei Fabelwesen, die Miyazaki geschaffen hat, sind einmal Yakul, Ashitakis Reittier, zum anderen der Hirschgott Shishi-gami. Yakul, ein Yak-ähnliches Tier mit den Hörnern eines Steinbocks und ebenso behände wie dieser, ist mit allen Attributen, die wir von guten Haustieren kennen, ausgestattet. Er steht treu zu seinem Herrn, bringt ihn überall schnell und sicher ans Ziel; er ist wachsam und verlässlich, er wittert jegliche Gefahr. Daneben hat er nicht den Kontakt zu den Wildtieren verloren und kann sich auch mit San verständigen. Miyazaki hat in ihm das Idealbild eines treuen Begleiters des Menschen geschaffen.
Das zweite Fantasiegeschöpf in "Mononoke Hime", der Hirschgott Shishi-gami, gehört nur in sehr begrenzten Sinne zum Tierreich. Er ist ein göttliches Wesen, das seine Gestalt verändern kann, einmal als übernatürlich golden strahlender Hirsch mit einem vielstängigen Geweih, und einem fast menschlichen, roten Gesicht, zum anderen als riesiges, halbtransparentes Wesen, aufrecht gehend, mit menschen- und drachenähnlichen Formen. Shishi-gami, der Gott des Waldes und der Berge, ist die Verkörperung der göttlichen Energie; ein Symbol für die Natur. Er kann Leben spenden und Leben nehmen, er kann heilen und einen Fluch aufheben. Miyazaki zeigt sehr eindrucksvoll bei jedem Schritt des Hirschgottes den natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen. Der Tod des Hirschgottes wäre gleichbedeutend mit der Zerstörung der Natur. Miyazaki lässt am Ende des Filmes Ahitaka sagen: "Shishi-gami wird niemals sterben, er ist Leben und Tod in einem" .

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Tierwelt in den europäischen Märchen und Fabeln weit klischeehafter dargestellt ist als bei Miyazaki. Dieser orientiert sich mehr an den natürlichen Verhaltensweisen der Tiere und schafft einmalige Fantasiegeschöpfe, während in den Märchen die Fabelwesen oft übernommen werden und immer wieder ähnlich sind. In den Märchen verfügen die Tiere manchmal über Zauberkräfte, bei Miyazaki haben sie gottähnlichen Status, was sicher in den Wurzeln des Schintoismus begründet ist, dessen Gottheiten Naturkräfte, Berge, Flüsse, Seen und einige Tiere sind.


 

 

Zurück zu Manga und Anime

[Manga und Anime]